Haideor, Zafir und Kazim - Eingeschlossen in Parachinar unter der Bedrohung der Taliban
Haideor, Zafir und Kazim wurden am 5. Mai 2025 gemeinsam mit mehreren weiteren pakistanischen Staatsangehörigen von unserem Rettungsschiff Ocean Viking aus Seenot gerettet. Zwischen 2023 und 2024 hat sich die Zahl der geretteten Menschen aus Pakistan vervierfacht. Dieser Anstieg zeigt, dass sich immer mehr Menschen aus Pakistan auf die Flucht über das zentrale Mittelmeer begeben, da sie gezwungen sind, außerhalb ihres Landes nach Sicherheit zu suchen.
Haideor, Zafir und Kazim - Eingeschlossen in Parachinar unter der Bedrohung der Taliban
Heimatland
Rettungsdatum
Alter


Haideor, Zafir und Kazim wurden am 5. Mai 2025 gemeinsam mit mehreren weiteren pakistanischen Staatsangehörigen von unserem Rettungsschiff Ocean Viking aus Seenot gerettet. Zwischen 2023 und 2024 hat sich die Zahl der geretteten Menschen aus Pakistan vervierfacht. Dieser Anstieg zeigt, dass sich immer mehr Menschen aus Pakistan auf die Flucht über das zentrale Mittelmeer begeben, da sie gezwungen sind, außerhalb ihres Landes nach Sicherheit zu suchen.
Parachinar: Zwischen Gewalt, Belagerung und Isolation
“Wir kommen aus Parachinar und wir sind schiitische Muslime. Wir sind sehr nah an Afghanistan und es gibt viele Taliban in dieser Grenzregion. Sie töten uns. Unsere Stadt war acht bis neun Monate lang belagert. Die einzige Straße, die uns mit dem Rest Pakistans verbindet, war geschlossen. Wenn ich jetzt zurückkehren möchte, ist das nicht möglich. Wenn mich jemand auf der Straße sieht, vielleicht würde er mich töten. Du kannst weder hinein noch hinaus.“ - Kazim
Alle drei Männer, zwischen 24 und 28 Jahre alt, kommen aus Parachinar. Sie ist die Hauptstadt des Kurram-Tals in der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa, direkt an der Grenze zu Afghanistan. Die Region ist seit Jahrhunderten religiös und ethnisch vielfältig, zugleich aber von tief verwurzelten Rivalitäten geprägt. Parachinar selbst ist überwiegend schiitisch: Rund 83 Prozent der Bevölkerung gehören den Turi und schiitischen Teilen der Bangash an – alteingesessenen Stammesgemeinschaften des Kurram-Tals. Dadurch bildet die Stadt eine schiitische Enklave in einem sonst mehrheitlich sunnitischen Land, inklusive dem Nachbarland Afghanistan.
Das Gebiet wurde von den Taliban übernommen, die das Land mit einem Terrorregime beherrschen. Als Folge sind viele Einheimische, die der schiitischen Minderheit angehören, geflohen. Angetrieben von ideologischen Differenzen haben die Taliban eine Wirtschaftsblockade über die von Schiit*innen dominierten Gebiete verhängt und verüben häufig tödliche Anschläge auf Schiit*innen.
Es gibt nur eine Straße, die Parachinar mit dem Rest Pakistans verbindet. Nach mehreren tödlichen Angriffen auf humanitäre Konvois hat die Regierung die Straße gesperrt. Längere Straßensperren und die vollständige Bewegungseinschränkung von und nach Kurram haben zu einem Mangel an lebenswichtigen Gütern geführt.
„Es kommen keine Lebensmittel, keine Medikamente, nichts mehr in unsere Region. Parachinar ist jetzt wie ein Gefängnis.“ - Zafir
Leben unter ständiger Bedrohung
“1999 wurde das Leben aufgrund der schwierigen Bedingungen in Parachinar, insbesondere aufgrund des sektierischen Konflikts, unerträglich. Ich musste die Schule verlassen. Zu dieser Zeit waren die Taliban sehr stark und sie hatten die vollständige Kontrolle über das Gebiet. Meine Brüder, andere männliche Verwandte und ich blieben in Parachinar, während die Frauen und Kinder in Quetta lebten, einer Stadt außerhalb der Region. Während dieser Zeit lebten wir in großer Angst und Unsicherheit. Wir hörten jeden Tag von Angriffen und Morden. Aufgrund der ständigen psychischen Belastung und des Traumas leide ich unter Depressionen. Ich hatte mehrere medizinische Behandlungen und bin weiterhin in Therapie.” - Haideor
Haideor hoffte, in seine Heimatstadt zurückkehren zu können, aber als sein Onkel und sein Cousin getötet wurden, wurde ihm klar, dass er nicht zurückkehren kann.
„Meine Gegend ist wunderschön, es gibt Flüsse, Berge, Gletscher. Alles in meiner Gegend ist sehr grün. Ich mag alles an meinem Zuhause. Ich habe viele Freunde, meine Mutter, meine Schwester. Ich liebe es und vermisse es. Es gibt alles, aber es gibt keinen Treibstoff, kein Speiseöl, keinen Zucker. Es gibt ein Krankenhaus, es gibt Ärzte, aber im Krankenhaus gibt es keine Medikamente. Wenn diese Straße geöffnet ist, kann ich überall in Pakistan hinfahren, aber wenn sie gesperrt ist, komme ich aus Parachinar nicht heraus. Und jetzt ist diese Straße blockiert. Deshalb kann ich nicht nach Hause gehen. Selbst der Krankenwagen kann nicht kommen. Die Aufständischen würden den Krankenwagenfahrer töten.” - Zafir

Historischer und politischer Hintergrund
Die heutigen Spannungen in Parachinar haben tiefe historische Wurzeln. Schon lange vor der Kolonialzeit gab es lokale Landkonflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Stämmen. Die britische Kolonialverwaltung verschärfte diese Spannungen gezielt, indem sie nach dem Prinzip des „divide and rule“ verfiel, also bestehende religiöse oder ethnische Gegensätze bewusst vertiefte, um ihre Herrschaft leichter durchzusetzen.
Nach der Unabhängigkeit blieb die Region Teil der sogenannten FATA, der „Federally Administered Tribal Areas“. Diese Gebiete standen bis 2018 weitgehend außerhalb des regulären staatlichen Rechtssystems. Gültig war dort das drakonische Frontier Crimes Regulation (FCR), ein Kolonialgesetz, das kollektive Bestrafung erlaubte, demokratische Mitbestimmung ausschloss und funktionierende staatliche Institutionen verhinderte. Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit und Infrastruktur fehlten jahrzehntelang nahezu vollständig.
Ab den 1980er-Jahren, verstärkt nach dem sowjetisch-afghanischen Krieg und dann erneut im Zuge des US-geführten „War on Terror“ nach 2001, breiteten sich extremistische Ideologien und militante Netzwerke in der Grenzregion aus. Gruppen, wie die pakistanischen Taliban (TTP) sowie später der IS, nutzten die offenen Grenzen, die staatliche Abwesenheit, die bestehenden Stammeskonflikte und die strukturelle Schwäche der ehemaligen FATA gezielt aus. Die schiitische Bevölkerung wurde systematisch angegriffen: Bombenattentate, gezielte Tötungen, Blockaden und zeitweilige Belagerungen führten dazu, dass Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innen seit Jahren von einem „Shia genocide“ sprechen.
Zwischen 2012 und 2017 erreichte die Gewalt in Parachinar einen Höhepunkt: Bombenanschläge auf Märkte, Massaker an Reisenden und tagelange bewaffnete Auseinandersetzungen forderten Dutzende Tote und Verletzte. Viele Familien wurden aus ihren Dörfern vertrieben. Der Staat unternahm zwar wiederholt militärische Operationen, doch kaum ein Täter wurde strafrechtlich verfolgt. Dieser Umstand ermutigte extremistische Akteure und traumatisierte die schiitische Bevölkerung zusätzlich.
Ende 2024 eskalierte die Lage erneut. Am 21. November 2024 wurden Dutzende Reisende – viele von ihnen Schiit*innen – auf der Straße nach Peshawar brutal ermordet. Parachinar geriet erneut unter eine nahezu vollständige Blockade: Die einzige Verbindungsstraße blieb geschlossen, bewaffnete Gruppen verhinderten Lieferungen, die Stadt wurde buchstäblich ausgehungert.
Menschenrechtsorganisationen, darunter in einem offenen Brief an Präsident Zardari, forderten die Regierung auf, bewaffnete Gruppen zu entwaffnen, die Straße zu öffnen und die Täter der Massaker strafrechtlich zu verfolgen. Zwar wurde am 2. Januar 2025 ein Friedensabkommen geschlossen, doch nach einem Anschlag auf den stellvertretenden Bezirkskommissar am 3. Januar brach die fragile Ruhe sofort wieder zusammen.
Heute leiden die Bewohner*innen Parachinar’s neben der ständigen Bedrohung durch Anschläge und gezielte Tötungen unter einer massiven humanitären Krise: Lebensmittel, Heizmaterial, Treibstoff und Medikamente fehlen; Schulen bleiben geschlossen; Krankenhäuser sind ohne Versorgung; die lokale Wirtschaft ist durch jahrelange Gewalt praktisch zusammengebrochen.
Für die Einwohner*innen Parachinar’s bedeutet dieser Alltag ein Leben zwischen Angst, Isolation und der Suche nach Sicherheit. Unter diesen Bedingungen bleibt die Flucht für viele der einzige Ausweg.
Credits Titelbild: Fellipe Lopes / SOS MEDITERRANEE
Credits Bild 2: Javier Alvarez / SOS MEDITERRANEE
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