Kinder auf der zentralen Mittelmeerroute
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet, also ohne ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten das zentrale Mittelmeer nach Italien zu überqueren versuchen, ist 2023 stark angestiegen.
Kinder auf der zentralen Mittelmeerroute
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Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet, also ohne ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten das zentrale Mittelmeer nach Italien zu überqueren versuchen, ist 2023 stark angestiegen.
“Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof für Kinder und ihre Zukunft geworden. Die verheerende Situation von Kindern, die in Europa Asyl und Sicherheit suchen, ist das Ergebnis politischer Entscheidungen und eines kaputten Migrationssystems.”
- Regina De Dominicis, UNICEF Sonderkoordinatorin für die Hilfe für Geflüchtete und Migrant*innen in Europa, 2023
Von den mehr als 42.000 Menschen, die SOS MEDITERRANEE seit 2016 im zentralen Mittelmeer gerettet hat, waren 10.387 Kinder und Jugendliche (Stand: 20.11.2025). Vier von fünf von ihnen waren unbegleitet, also ohne Eltern oder Erziehungsberechtigte unterwegs. 658 Kinder waren sogar jünger als fünf Jahre.
Hinter jeder dieser Zahlen steht ein Mensch, ein individuelles Schicksal – doch viele dieser Kinder teilen ähnliche Gewalterfahrungen. Save the Children spricht in seinem aktuellen Bericht davon, dass sich „der Krieg gegen Kinder“ weiter verschärft: Noch nie waren so viele Minderjährige von Gewalt, Vertreibung und schweren Menschenrechtsverletzungen betroffen. Weltweit leben heute 520 Millionen Kinder – jedes fünfte Kind – in aktiven Konfliktzonen.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die das zentrale Mittelmeer überqueren, ist 2023 deutlich angestiegen. Der UNHCR registrierte im Jahr 2023 27.420 Ankünfte Minderjähriger in Italien – rund zwei Drittel von ihnen waren unbegleitet. Das entspricht einer Zunahme von 34% im Vergleich zu 2022.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die das zentrale Mittelmeer überqueren, bleibt hoch: Der UNHCR registrierte im Jahr 2024 12.594 Ankünfte Minderjähriger in Italien- rund zwei Drittel von ihnen waren unbegleitet. Obwohl die Gesamtzahl der Ankünfte in Italien im Jahr 2024 zurückging, stieg der Anteil der Kinder weiter an: von 17 % im Jahr 2023 auf 19 % im Jahr 2024. Das gilt auch für den Anteil der unbegleiteten Minderjährigen, der sich ebenfalls erhöhte.
2024 verloren mindestens 2573 Personen, bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben. 1810 Personen davon auf der zentralen Mittelmeerroute und 125 davon Kinder. Seit Anfang dieses Jahres (Stand 20.11.2025), waren es 1644 Menschen, darunter 93 Kinder.
Schätzungen des Kinderhilfswerks UNICEF zufolge sind in der ersten Jahreshälfte von 2023 mindestens 289 Kinder auf der zentralen Mittelmeerroute gestorben oder verschollen. Das entspricht etwa elf Kindern pro Woche. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch weitaus höher. Der Anstieg der Zahl unbegleiteter Kinder und Jugendlicher auf der zentralen Mittelmeerroute ist äußerst besorgniserregend.
“Mein Name ist Ali*. Ich bin 8 Jahre alt und komme aus Tambaga in Mali. Vor etwa einem Jahr habe ich Mali zusammen mit einem anderen Jungen verlassen. Ich lief ungefähr einen Monat lang durch die Wüste. Auf dem Weg habe ich gearbeitet. Ich habe geschweißt und gestrichen. In Sabratha in Libyen schlief ich auf der Straße. Dort wurde ich oft verprügelt, weil ich Schwarz bin.” - Ali*, 8 Jahre alt
Ali* ist ein 8-jähriger unbegleiteter Minderjähriger. Er wurde am 14. März 2024 zusammen mit 87 anderen Menschen von den Teams der Ocean Viking aus einem überfüllten Schlauchboot in der libyschen Such- und Rettungsregion evakuiert.
Wer vor Krieg, Konflikten, Gewalt oder Armut aus dem eigenen Herkunftsländern flieht, ist auch auf der Reise meist extremen Risiken und Gefahren ausgesetzt. Unbegleitete Minderjährige wie Ali* gelten entlang der Fluchtrouten als besonders gefährdet, Ausbeutung und Missbrauch zu erleben. Oft sind sie ganz auf sich allein gestellt und haben keine Eltern oder Erziehungsberechtigten, die sich um ihre Grundbedürfnisse und ihre Sicherheit kümmern. Nach zahlreichen regionalen, nationalen sowie internationalen Rechtsbestimmungen gelten sie daher als vulnerable Gruppe mit besonderen Schutzbedarfen**.
Menschen auf der Flucht, die versuchen, über das zentrale Mittelmeer nach Europa zu kommen, haben zuvor meist Libyen oder Tunesien durchquert. In beiden Ländern erfahren Menschen auf der Flucht häufig und systematisch Rassismus, Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch. Vor allem in Libyen gibt es immer wieder willkürliche Inhaftierungen, Zwangsarbeit, systematische Misshandlungen und Fälle von Menschenhandel. Viele Überlebende berichten, dass es in von Milizen betriebenen, informellen Haftanstalten regelmäßig und systematisch zu Erpressung, Folter und sogar Hinrichtungen kommt. Auch Kinder und Jugendliche werden in diesen Lagern ohne ausreichenden Schutz oft monatelang willkürlich festgehalten.
“Als ich das erste Mal versuchte, das Meer zu überqueren, nahm mich die libysche Küstenwache fest und steckte mich in ein Gefängnis*** namens Ain Zara. Dort blieb ich mehrere Monate lang. Ich war verängstigt. Ich hatte kein Geld, um rauszugehen, um zu essen.” - Ali*, 8 Jahre alt
Sarah* ist 15 Jahre alt und kommt aus der Elfenbeinküste. Sie wurde nachts von einem überfüllten Holzboot gerettet, das 12 Stunden lang auf dem Meer trieb, nachdem der Motor ausgefallen war. Sarah* verließ ihr Land in der Hoffnung, zu ihrer Mutter nach Europa zu gelangen. Ihre Reise führte sie durch Mali, Algerien und schließlich nach Libyen. Bei ihrem ersten Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, wurde sie abgefangen und in ein Internierungslager gebracht. Insgesamt verbrachte sie ein Jahr in Libyen.
“Wenn du das Meer wählst, weißt du nicht, ob du sterben wirst oder nicht. Aber es ist besser das Risiko einzugehen auf See zu sterben, als in Libyen zu bleiben.” - Sarah*
In Libyen sind unbegleitete Kinder und Jugendliche einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Menschenhandel zu werden. Vor allem Mädchen erleben oft sexuelle Ausbeutung, sowohl in Internierungslagern als auch auf kommerzielle Weise durch kriminelle Gruppen. Nicht selten wird berichtet, dass Frauen und Mädchen zu sexuellen Handlungen gezwungen werden, um im Gegenzug lebensnotwendige Dinge wie Nahrungsmittel oder Wasser zu erhalten. Jungen werden häufig zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen, oder durch Milizen als Kindersoldaten rekrutiert. Immer wieder werden Kinder im Rahmen von gewaltsamen, kollektiven Zurückweisungen oder willkürlichen Inhaftierungen von ihren Familien getrennt und müssen fortan allein überleben.
Kinder an Bord
Viele Kinder sind direkt nach ihrer Rettung in einem Schockzustand, wobei sie oft verängstigt, erschöpft und überfordert wirken. In diesen ersten Momenten ist es am wichtigsten, den Kindern Sicherheit zu vermitteln: Sie beruhigend anzusprechen, behutsam zu begleiten und ihnen einen geschützten Ort zum Schlafen und Ausruhen zu geben.
Nach und nach beginnt für viele Kinder ein behutsamer Prozess der Entspannung. Auch wenn an Bord nur wenige Materialien vorhanden sind, reichen oft einfache, alltägliche Dinge aus, um ein Stück Kindheit zurückzubringen: ein Blatt Papier, ein paar Stifte, eine kleine Bewegungseinheit, ein improvisiertes Spiel.

Dennoch wird deutlich, wie tief die Erlebnisse vieler Kinder sitzen: Manchmal ist es zu erkennen, wann Kinder ihre Spontaneität verloren haben – jene grundlegende Freude, die normalerweise allen Kindern eigen ist. Viele kommen in einem Zustand tiefer Angst an Bord, häufig wie erstarrt nach den einprägenden Erfahrungen ihrer Flucht.
“Wir sind noch jung, zu jung, wir haben unser Leben noch nicht gelebt. Ich möchte zur Schule gehen und Arbeit finden. Ich bin stolz, dass wir es geschafft haben, am Leben zu bleiben und all das Leid in Libyen überwunden zu haben. Heute sind wir stolz auf uns.” - Sarah*, 15 Jahre
Um jedem Kind eine sichere Zukunft zu bieten, muss die internationale Gemeinschaft zusammenarbeiten, um die humanitäre Krise auf dem Mittelmeer zu beenden. Kein Kind darf mehr die Schrecken dieser gefährlichen Überfahrt erleiden.
*Die Namen wurden geändert, um die Identität der überlebenden Person zu schützen.
** Das wichtigste internationale Rechtsinstrument für den Schutz von Kindern und Jugendlichen ist die UN-Kinderrechtskonvention. Einschlägige Zusätze zur Konvention, mit Blick auf die besonderen Schutzbedarfe unbegleiteter Minderjähriger, sind
- die Allgemeine Bemerkung Nr.6 (2005) zur Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes, sowie
- die Allgemeine Bemerkung Nr.13 (2011) zum Recht des Kindes auf Freiheit von allen Formen von Gewalt, verabschiedet vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes.
- die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU der EU definiert unbegleitete Minderjährige als besonders schutzbedürftige Personengruppe.
*** Die Überlebenden sprechen oft von „Gefängnissen“ oder „Haftanstalten“, wenn sie sich auf offizielle oder inoffizielle Internierungslager zu beziehen.
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