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Ocean Viking unter Beschuss

25
August
2025

Etwa 20 Minuten lang wurde die Ocean Viking am Wochenende in internationalen Gewässern mit Dauerfeuer von der libyschen Küstenwache beschossen. Das Schiff erlitt schwere Schäden, die Crew und 87 Gerettete an Bord blieben physisch unverletzt. SOS MEDITERRANEE fordert Aufklärung.

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Ocean Viking unter Beschuss

25
August
2025

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Etwa 20 Minuten lang wurde die Ocean Viking am Wochenende in internationalen Gewässern mit Dauerfeuer von der libyschen Küstenwache beschossen. Das Schiff erlitt schwere Schäden, die Crew und 87 Gerettete an Bord blieben physisch unverletzt. SOS MEDITERRANEE fordert Aufklärung.

Am 24. August 2025 wurde unser Rettungsschiff, die Ocean Viking, in internationalen Gewässern gewaltsam von der libyschen Küstenwache angegriffen. Der Angriff ereignete sich gegen 15:03 Uhr Ortszeit, etwa 40 Seemeilen nördlich der libyschen Küste.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits 87 aus Seenot gerettete Menschen sowie die Crew von SOS MEDITERRANEE und der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) an Bord. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, doch die Attacke hinterließ massive Schäden am Schiff und an kritischer Rettungsausrüstung.

20 Minuten unter Dauerbeschuss

Ein Corrubia-Patrouillenboot der libyschen Küstenwache – ein Schiff, das 2023 von Italien im Rahmen eines EU-Programms an Libyen übergeben wurde – näherte sich der Ocean Viking. Ohne Vorwarnung eröffneten zwei Männer an Bord das Feuer mit Sturmgewehren. Der Beschuss dauerte mindestens 20 Minuten an.

Lucille, die als Kommunikationsverantwortliche an Bord arbeitet, war zum Zeitpunkt des Angriffs auf der Brücke des Schiffs. Sie berichtet: 

Noch während ich mein Fernglas einstellte, um zu sehen, was passierte, hörte ich eine Kugel neben mir in die Tür einschlagen. Jemand schrie: "Auf den Boden!". Eine andere Person rief: „Sie schießen!“ Ich warf mich auf den Boden und ließ meine Kamera fallen. Ich hatte große Angst, ich stand direkt vor dem Fenster und dachte die ganze Zeit nur: „Was, wenn die Kugeln es durchschlagen?“

Die Geschosse der libyschen Küstenwache zerstörten mehrere Fenster, schlugen auf Kopfhöhe ein. Während der Angriffe mussten sich die Crew und die Geretteten in den Innenbereich des Schiffs zurückziehen.

Wir krochen auf dem Boden, um die Treppe hinunterzugehen. Dort sahen wir dann unsere Kollegen, die alle lagen oder saßen, um sich vor den Kugeln zu schützen. Als es für eine Weile aufhörte, flüchteten wir in die Zitadelle, dem sichersten Ort des Schiffes. Ich hatte riesige Angst, dass sie die Zitadelle finden; dass sie das Schiff entern und uns alle töten würden.

EU-finanzierte Gewalt

Besonders brisant: Das Patrouillenboot, das den Angriff ausführte, war Teil des EU-Programms „Support to Integrated Border and Migration Management in Libya (SIBMMIL)“. Eigentlich sollte es unbewaffnet sein. Die jahrelange finanzielle, logistische und operative Unterstützung der libyschen Küstenwache durch europäische Staaten macht diese Art von Gewalt überhaupt erst ermöglicht.

„Dieser Angriff war gezielt und lebensgefährlich. Wir fordern eine umfassende Untersuchung der Ereignisse und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen“, sagt Soazic Dupuy, Einsatzleiterin von SOS MEDITERRANEE.  

Der Vorfall war kein Unfall. Ablauf und Methoden des Angriffs zeigen den klaren Versuch, unsere Crew einzuschüchtern und unsere lebensrettende Arbeit zu behindern. Bereits im Juli 2023 hatte ein ähnliches libysches Patrouillenboot Schüsse in der Nähe unserer RHIBs während eines Rettungseinsatzes abgegeben. Trotz unserer öffentlichen Appelle wurde damals nie eine Untersuchung eingeleitet.

Auch die Audioaufnahmen von der Brücke zum Zeitpunkt des Angriffs zeigen deutlich: Der Angriff erfolgte ohne Vorwarnung. Von den Behörden gab es keinerlei Unterstützung - weder für unsere Crew noch für die geretteten Menschen an Bord. Es ist der Professionalität und den umgehenden Sicherheitsmaßnahmen der Crew zu verdanken, dass dieser Angriff nicht in einer Katastrophe mit Toten und Verletzten geendet ist.

Kritische Rettungsausrüstung gezielt beschädigt

Der gezielte Angriff hat schwere Schäden am Schiff sowie an der Rettungsausrüstung hinterlassen. Neben zahlreichen Einschusslöchern in den Fenstern und auf der Brücke wurden auch Navigationstechnik und mehrere Antennen zerstört.

"Sie haben strategische Punkte getroffen, um weitere Rettungen zu verhindern - doch vor allem haben sie versucht, uns zu töten", berichtet ein Mitglied des Such- und Rettungsteams.

Auch die drei Schnellrettungsboote, die für die Rettung von Menschen in Seenot teil unseres lebensrettenden Equipments sind, wurden stark beschädigt. Patrick, ein weiteres Mitglied des Such- und Rettungsteams erzählt: 

Besonders traf mich der Anblick eines unserer Schnellboote. Drei Jahre habe ich mit diesem Boot gearbeitet, habe gesehen, wie es unzählige Leben gerettet hat. Jetzt stand es da – an die Bordwand gelehnt, zerschossen, entlüftet, schlaff. Für mich war das ein herzzerreißender Anblick.

Um die Ocean Viking wieder einsatzfähig zu machen, sind zahlreiche Reparaturen nötig. Welche materiellen, zeitlichen und finanziellen Ausmaße das Beheben dieser schweren Schäden haben wird, ist zurzeit noch nicht abschließend geklärt. Die ohnehin schon viel zu knappen Rettungskapazitäten im zentralen Mittelmeer werden durch den Ausfall der Ocean Viking damit auf unvorhersehbare Zeit weiter dezimiert.

Crew der Ocean Viking an Bord festgesetzt

Am Montag, den 25. August, ein Tag nach dem gewalttätigen Angriff der libyschen Küstenwache, brachte die Crew der Ocean Viking die 87 Überlebenden an Bord in Augusta, Italien, an Land. Seither liegt das durch die Schüsse beschädigte Schiff auf Anweisung der Behörden vor dem Hafen vor Anker.

34 Personen, darunter 25 Mitarbeitende von SOS MEDITERRANEE und dem IFRC sowie 9 Mitglieder der Schiffscrew, wurden daraufhin für fünf weitere Tage ohne nachvollziehbare Begründung an Bord festgesetzt.

Offiziell verweigerten die italienischen Gesundheitsbehörden die Anlandung der Crew, weil einer der Überlebenden an Bord zuvor positiv auf Tuberkulose getestet worden war. Der Fall war jedoch bereits frühzeitig vom medizinischen Team an Bord erkannt und die betroffene Person gemäß internationalen medizinischen Standards isoliert und behandelt worden. Das Infektionsrisiko für die Crew war daher äußerst gering und die Verordnung einer präventiven Quarantäne medizinisch unbegründet und gemäß WHO-Richtlinien nicht gerechtfertigt.

Trotz durchweg negativer Tests durfte die Crew fünf Tage lang weder von Bord gehen, noch erhielt sie angesichts der enormen psychischen Belastung infolge des Angriffes durch die libysche Küstenwache die notwendige Unterstützung. Dass die gesamte Crew tagelang daran gehindert wurde, sich endlich vom Ort des kürzlich erlebten traumatischen Ereignisses zu entfernen und in ein neutrales Umfeld zu begeben, ist absolut inakzeptabel.

„Nachdem die libysche Küstenwache letzten Sonntag auf unser Team geschossen hat, sind wir nun gezwungen, diese ungerechtfertigte Isolation an Bord zu erdulden. Dies geschieht genau an dem Ort, an dem sich dieser lebensbedrohliche Vorfall ereignet hat, und hindert uns daran, uns physisch wie psychisch von dem traumatisierenden Erlebnis Abstand zu gewinnen“, erklärt Angelo Selim, Such- und Rettungskoordinator an Bord der Ocean Viking.

Erst am Freitag, den 29. August gewährten die italienischen Behörden der Ocean Viking die „Free Pratique“ – eine Erklärung, die bedeutet, dass das Schiff frei von Infektionskrankheiten ist und Voraussetzung für die Genehmigung zur Anlandung der Crew.

Forderung nach politischem Umdenken

SOS MEDITERRANEE fordert ein sofortiges Ende der Zusammenarbeit europäischer Staaten mit der libyschen Küstenwache und ein klares politisches Signal: Seenotrettung darf nicht kriminalisiert oder behindert werden, sondern muss – im Einklang mit internationalem Recht – koordiniert und garantiert werden.

Credits: Max Cavallari / SOS MEDITERRANEE

Dieser Artikel wird aktualisiert, wenn wir neue Erkentnisse und Berichte von Bord teilen können.

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