Unbegleitete Minderjährige auf der zentralen Mittelmeerroute
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet, also ohne ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten das zentrale Mittelmeer nach Italien zu überqueren versuchen, ist 2023 stark angestiegen.
Unbegleitete Minderjährige auf der zentralen Mittelmeerroute
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Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet, also ohne ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten das zentrale Mittelmeer nach Italien zu überqueren versuchen, ist 2023 stark angestiegen.
“Das Mittelmeer ist zu einem Friedhof für Kinder und ihre Zukunft geworden. Die verheerende Situation von Kindern, die in Europa Asyl und Sicherheit suchen, ist das Ergebnis politischer Entscheidungen und eines kaputten Migrationssystems.”
- Regina De Dominicis, UNICEF Sonderkoordinatorin für die Hilfe für Geflüchtete und Migrant*innen in Europa, 2023
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet, also ohne ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten das zentrale Mittelmeer nach Italien zu überqueren versuchen, ist 2023 stark angestiegen. Im Jahr 2023 registrierte der UNHCR 18.820 Ankünfte unbegleiteter Minderjähriger in Italien, die zuvor die gefährliche Seeüberfahrt von Nordafrika aus angetreten hatten.
Das entspricht einer Zunahme von 34% im Vergleich zu 2022. Schätzungen des Kinderhilfswerks UNICEF zufolge sind in der ersten Jahreshälfte von 2023 mindestens 289 Kinder auf der zentralen Mittelmeerroute gestorben oder verschollen. Das entspricht etwa elf Kindern pro Woche. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch weitaus höher. Der Anstieg der Zahl unbegleiteter Kinder und Jugendlicher auf der zentralen Mittelmeerroute ist äußerst besorgniserregend.
“Mein Name ist Ali*. Ich bin 8 Jahre alt und komme aus Tambaga in Mali. Vor etwa einem Jahr habe ich Mali zusammen mit einem anderen Jungen verlassen. Ich lief ungefähr einen Monat lang durch die Wüste. Auf dem Weg habe ich gearbeitet. Ich habe geschweißt und gestrichen. In Sabratha in Libyen schlief ich auf der Straße. Dort wurde ich oft verprügelt, weil ich Schwarz bin.” - Ali*, 8 Jahre alt
Ali* ist ein 8-jähriger unbegleiteter Minderjähriger. Er wurde am 14. März 2024 zusammen mit 87 anderen Menschen von den Teams der Ocean Viking aus einem überfüllten Schlauchboot in der libyschen Such- und Rettungsregion evakuiert.
Menschen, die vor Krieg, Konflikten, Gewalt oder Armut in ihren Herkunftsländern fliehen, sind auch auf ihrer Reise meist extremen Risiken und Gefahren ausgesetzt. Unbegleitete Minderjährige wie Ali* gelten entlang der Fluchtrouten als besonders gefährdet, Ausbeutung und Missbrauch zu erleben. Oft sind sie ganz auf sich allein gestellt und haben keine Eltern oder Erziehungsberechtigten, die sich um ihre Grundbedürfnisse und ihre Sicherheit kümmern. Nach zahlreichen regionalen, nationalen sowie internationalen Rechtsbestimmungen gelten sie daher als vulnerable Gruppe mit besonderen Schutzbedarfen**.
Migrant*innen, die über das zentrale Mittelmeer Richtung Europa fliehen, haben zuvor meist Libyen oder Tunesien durchquert. In beiden Ländern erfahren Menschen auf der Flucht häufig und systematisch Rassismus, Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch. Vor allem in Libyen gibt es immer wieder willkürliche Inhaftierungen, Zwangsarbeit, systematische Misshandlungen und Fälle von Menschenhandel. Viele Überlebende berichten, dass es in von Milizen betriebenen, informellen Haftanstalten regelmäßig und systematisch zu Erpressung, Folter und sogar Hinrichtungen kommt. Auch Kinder und Jugendliche werden in diesen Lagern ohne ausreichenden Schutz oft monatelang willkürlich festgehalten.
“Als ich das erste Mal versuchte, das Meer zu überqueren, nahm mich die libysche Küstenwache fest und steckte mich in ein Gefängnis*** namens Ain Zara. Dort blieb ich mehrere Monate lang. Ich war verängstigt. Ich hatte kein Geld, um rauszugehen, um zu essen.” - Ali*, 8 Jahre alt
“Man hat nur salziges Wasser zu trinken, man wird schlecht behandelt.” - Sarah*, 15 Jahre alt
Sarah* ist 15 Jahre alt und kommt aus der Elfenbeinküste. Sie wurde in der Nacht vom 12. Februar 2022 von einem überfüllten Holzboot gerettet, das 12 Stunden lang auf dem Meer trieb, nachdem der Motor ausgefallen war. Sarah* verließ ihr Land in der Hoffnung, zu ihrer Mutter nach Europa zu gelangen. Ihre Reise führte sie durch Mali, Algerien und schließlich nach Libyen. Bei ihrem ersten Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, wurde sie abgefangen und in ein Internierungslager gebracht. Insgesamt verbrachte sie ein Jahr in Libyen.
“Wenn du das Meer wählst, weißt du nicht, ob du sterben wirst oder nicht. Aber es ist besser das Risiko einzugehen auf See zu sterben, als in Libyen zu bleiben.” - Sarah*
In Libyen sind unbegleitete Kinder und Jugendliche einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Menschenhandel zu werden. Vor allem Mädchen erleben oft sexuelle Ausbeutung, sowohl in Internierungslagern als auch auf kommerzielle Weise durch kriminelle Gruppen. Nicht selten wird berichtet, dass Frauen und Mädchen zu sexuellen Handlungen gezwungen werden, um im Gegenzug lebensnotwendige Dinge wie Nahrungsmittel oder Wasser zu erhalten. Jungen werden häufig zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen, oder durch Milizen als Kindersoldaten rekrutiert. Immer wieder werden Kinder im Rahmen von gewaltsamen, kollektiven Zurückweisungen oder willkürlichen Inhaftierungen von ihren Familien getrennt und müssen fortan allein überleben.
Von den über 40.000 Menschen, die SOS MEDITERRANEE seit 2016 gerettet hat, sind 9.830 minderjährig (Stand 24.06.2024). Im Jahr 2023 wurden 665 Kinder gerettet. 496, also 75% von ihnen, waren unbegleitet. 20 der geretteten Kinder waren unter 5 Jahre alt.
Der Einsatz von überfüllten, seeuntauglichen Schlauch- und Fischerbooten, unzureichende Nahrungsmittel- und Wasservorräte an Bord, gefährliche Wetterbedingungen, sowie gewaltsame Abfangaktionen durch die libyschen und tunesischen Küstenwachen machen die Überfahrt für alle an Bord befindlichen Menschen zu einem gefährlichen Überlebenskampf. Unbegleitete Minderjährige sind in diesem Kontext besonders vulnerabel. Ohne Schutz und Unterstützung durch Erwachsene haben sie in dieser lebensbedrohlichen Situation geringere Überlebenschancen. Die fehlenden Such- und Rettungskapazitäten auf dem zentralen Mittelmeer verschärfen die Situation noch weiter, da in Seenot geratene Boote oft tagelang nicht entdeckt werden.
Im Jahr 2023 verloren mindestens 3155 Personen, darunter viele Kinder, bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren ihr Leben. Das sind fast dreimal so viele Menschen wie 2020. Seit 2017 war 2023 das tödlichste Jahr auf See. Diese traurige Bilanz verdeutlicht, dass Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit von Geflüchteten, insbesondere von Kindern und Jugendlichen auf See dringend notwendig sind.
“Wir sind noch jung, zu jung, wir haben unser Leben noch nicht gelebt. Ich möchte zur Schule gehen und Arbeit finden. Ich bin stolz, dass wir es geschafft haben, am Leben zu bleiben und all das Leid in Libyen überwunden zu haben. Heute sind wir stolz auf uns.” - Sarah*, 15 Jahre
Um jedem Kind eine sichere Zukunft zu bieten, muss die internationale Gemeinschaft zusammenarbeiten, um die humanitäre Krise auf dem Mittelmeer zu beenden. Kein Kind darf mehr die Schrecken dieser gefährlichen Überfahrt erleiden.
*Die Namen wurden geändert, um die Identität der überlebenden Person zu schützen.
** Das wichtigste internationale Rechtsinstrument für den Schutz von Kindern und Jugendlichen ist die UN-Kinderrechtskonvention. Einschlägige Zusätze zur Konvention, mit Blick auf die besonderen Schutzbedarfe unbegleiteter Minderjähriger, sind
- die Allgemeine Bemerkung Nr.6 (2005) zur Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes, sowie
- die Allgemeine Bemerkung Nr.13 (2011) zum Recht des Kindes auf Freiheit von allen Formen von Gewalt, verabschiedet vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes.
- die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU der EU definiert unbegleitete Minderjährige als besonders schutzbedürftige Personengruppe.
*** Die Überlebenden sprechen oft von „Gefängnissen“ oder „Haftanstalten“, wenn sie sich auf offizielle oder inoffizielle Internierungslager zu beziehen.
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